Eine Bachelor-Arbeit
von Maximiliane Hüls und Judith Schröder
»Jeder Wendepunkt, jede Entscheidung bringt Konsequenzen mit sich. Die Sicht auf diesen Umstand ändert sich im Laufe des Lebens: zunächst perspektivisch, später aus der Retrospektive.
Welche Auswirkungen hätten anders getroffene Entscheidungen auf den weiteren Lebensweg zur Folge gehabt? Welche Ereignisse bestimmen unseren Weg?
Aus persönlichem Bezug zu diesem Thema – tendenziell aus unserer Sicht noch perspektivisch – setzen wir uns in unserer Bachelor-Arbeit mit der Geschichte der 78-jährigen Protagonistin auseinander, die auf ihr Leben und die ausschlaggebenden Wendepunkte zurückblickt. Der realen Geschichte, interpretiert in Text und Bild, werden weitere fiktive Erzählstränge hinzugefügt. Inspiriert durch die Erzählungen der alternden Dame sowie zahlreiche Einzelschicksale dokumentarisch erfasster Zeitzeugen-Interviews, entsteht ein komplexes Konstrukt an Möglichkeiten. Alles wird real, alles wird fiktiv. Als Ergebnis präsentieren wir zwei Leporellos, die die Geschichte in ihren Einzelheiten zeigen.«
Das Buchprojekt »Retrospektive Fiktion« beschreibt in erste Linie die Auseinandersetzung mit dem Thema »Wendepunkte« in Form einer Erzählung und richtet sich an eine lese- und experimentierfreudige Zielgruppe. Die Beschäftigung mit den Parametern Realität und Fiktion bildet den Kern der Arbeit und lässt ein Konstrukt entstehen, das die Vielfalt an Möglichkeiten wiedergibt und immer wieder zu der Frage zurückkehrt: »Was wäre geschehen, wenn …?«. Geschichtliche Ereignisse sowie persönliche Entscheidungen, Erfahrungen und Schicksalsschläge der realen Protagonistin und der »hinzu erfundenen« (aber auf realen Geschichten basierenden) Erzählungen beeinflussen den Inhalt gleichermaßen.
Die Zusammenarbeit mit der 78-jährigen Protagonistin, die auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin anonym behandelt wird, gestaltete sich in Form von Interviews, die anschließend – in der Sprache und Erzählmodi angepasst – verschriftlicht und durch die fiktiven Erzählstränge ergänzt wurden. Der Leser wird durch die formal nicht zu unterscheidende Gestaltung der Erzählstränge über die wahre Erzählung im Unklaren gelassen. Den Gestalterinnen kommt es nicht darauf an, durch eine Trennung von Realität und Fiktion über den Inhalt aufzuklären, sondern auf Basis der Gleichstellung beider Parameter das Spektrum der Möglichkeiten zu untersuchen: Jede der erzählten Geschichten könnte real sein, weil sie in ähnlicher Art tatsächlich geschah. Alles Reale hingegen beinhaltet die Fiktion des Erlebten sowie die Interpretation der Autorinnen. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion wird irrelevant und verschwimmt.
Dieser Ansatz erfährt eine weitere Steigerung durch die Ergänzung von Fotografien aus privatem Bestand. Die Bildebene spielt neben der Textebene eine zentrale Rolle in der Gestaltung. Sie vermittelt dem Leser Einblicke in den Zeitgeist der unterschiedlichen Jahrzehnte und besteht als zeitliche Achse, die parallel zu den erzählten Geschichten verläuft. Da in der Textebene größtenteils auf die Nennung konkreter Jahreszahlen verzichtet wird, ist es dem Leser möglich, sich über die Anmutung der Bilder zeitlich zu orientieren. Die Bilder sind im Sinne der suggerierten Authentizität bewusst nach ihrer Anmutung als »Schnappschüsse« ausgewählt und zusammengestellt. Es handelt sich nur zum Teil um die privaten Fotografien der Protagonistin. Die Bilder zeigen mögliche »Gesichter« und wechselnde Persönlichkeiten hinter den Geschichten auf und dienen somit einer Personifizierung der Erzählung.
Die Gestaltung des Buchprojektes »Retrospektive Fiktion« ist im Wesentlichen durch die Unterscheidung der zwei Erzählebenen Text und Bild geprägt. Die horizontale Ausrichtung der parallel verlaufenden Erzählstränge ließ die Inszenierung als Leporello sinnvoll erscheinen. Zudem ergab sich durch die vielfältigen Methoden der Handhabung eines Leporellos die Möglichkeit, Text und Bild auch formal in zwei Ebenen zu unterscheiden und getrennt voneinander auf Vorder- und Rückseite zu platzieren. So ist es dem Leser einerseits möglich, jede Erzählebene für sich zu betrachten, sowie andererseits das Buch gegen das Licht zu halten und die voneinander getrennten Text- und Bildelemente als ein neues Gesamtbild zusammenzufügen. Es steht dem Leser frei, sich für einen Blickwinkel zu entscheiden.
Die Verbindungslinien stellen ein zentrales Gestaltungselement der Textebene dar. Die einzelnen Textpassagen miteinander verbindend, ergibt sich ein formales Muster, das unterschiedliche Deutungsansätze zulässt. So ließe es sich einerseits als Metapher des (roten) Fadens verstehen, der sich durch die Geschichte zieht und an den entsprechenden Wendepunkten die Erzählstränge zusammen- und auseinanderführt. Die eigentliche Inspiration zum Einsatz der Linien als Stilmittel ergab sich jedoch aus der Darstellung des Sprecher-Einsatzes in Partituren.
Die abstrakt begriffenen Notenzeichen füllen die »nicht-erzählten« Zeiten parallel verlaufender Erzählstränge auf. Die Notenzeichen sind nach einem zeitlich definierten System aufgeschlüsselt und auf die Erzählungen angepasst.
In der Gestaltung finden sich Textpassagen, die unterschiedlich typografisch gestaltet sind und eng mit der inhaltlichen Interpretation der Texte zusammenhängen. Den stilistischen Mittel der interpretierten Passagen sind im Sinne der inszenierten Typografie keine Grenzen gesetzt. Einige Mittel finden wiederholt Anwendung, andere werden an ausgewählten Stellen einmalig zum Einsatz gebracht. Das Spektrum der Gestaltung reicht beispielsweise von einer starken Sperrung einzelner Wörter zur Hervorhebung, bewusst inszenierter Löcher im Blocksatz, interpretierenden Platzierungen bis zum Spiel mit dem Grundlinienversatz und so weiter.
Die Verwendung unterschiedlicher Zeilenabstände leitet sich aus dem Inhalt ab und dient der Gestaltung als stilistisches Mittel zur Visualisierung der Dramaturgie. Ausgehend von dem als »normal« definierten – gut leserlichen – Zeilenabstand existiert der Kompresssatz zur Verdeutlichung besonders dramatischer Situationen. Der dreifache Zeilenabstand hingegen fungiert als grafische Metapher einer schönen, unbefangenen beziehungsweise sich bessernden Situation.
Ein weiteres Gestaltungsparameter stellen die gefalteten Einkerbungen dar, die dem Buch an ausgewählten Stellen hinzugefügt wurden. Sie fungieren als Spitzmarken besonders einschneidender Ereignisse: Die Kerbe als eine Narbe oder Sorgenfalte.
Im Sinne einer Wiederverwertung bereits erzählter Geschichten und als Hinweis auf das Spiel mit neu konstruierten Realitäten werden für die Covergestaltung alte Leineneinbände genutzt. Erst das Zusammenführen der Titel komplettiert die Blindprägung des Schriftzuges.
Die Präsentation des Bachelor-Projektes erfolgte im Juli 2010 in Form einer Absolventen-Ausstellung im Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Bielefeld.
»Retrospektive Fiktion« beschreibt die schicksalhaften Geschichten vieler Individuen, geprägt durch persönliche Entscheidungen und Ereignisse, aber auch durch die Einflüsse historischer Momente deutscher Geschichte. Eine intensive Auseinandersetzung mit einer Generation, die auf ihr Leben zurückblickt: Was ist geschehen, was hätte geschehen können? Eine Generation von Augenzeugen, die es nicht mehr lange geben wird, wenngleich nicht eine historische Erfassung, sondern die persönlichen Erinnerungen im Mittelpunkt stehen.
»Retrospektive Fiktion« beinhaltet keine klare Botschaft und steht vielmehr für eine Beobachtung und Interpretation des Geschehenen & Möglichen, der Vergangenheit & Zukunft, der Realität & Fiktion.